Abschied von der Bimbo-Box

Mein erster Schultag war der Tag, an dem ich mich von der Bimbo-Box lossagte.

Am Morgen hockte ich mit meiner Mutter und meiner Schultüte in einer sehr vollen Aula. Um uns herum lauter andere Kinder und lauter andere Mütter, keine Väter. Ein großer Mann stand auf und ging nach vorne. Er war breit und hatte auf dem Kopf kaum noch Haare, aber der Kranz, der sich um seine Glatze zog, war tiefschwarz. Der Mann fing an zu reden. Er sagte, er sei der Rektor der Schule und sein Name sei Kind. Großes Gelächter.

Ich sah mich um. Gleich neben mir saß ein ziemlich dicker Junge, der von seiner Mutter Rudi genannt wurde. Er war sehr dick. Seine Mutter trug alte, verblichene Sachen, und ihre Haare sahen aus, als würden Vögel drin wohnen.

Sie hatte nicht viel Freude an ihrem Sohn. Trotz seiner für sein Alter kaum fassbaren Leibesfülle zappelte er herum wie ein Hamster unter Starkstrom, rutschte auf dem Stuhl hin und her und beugte sich immer wieder nach vorne, um in die Schultüte zu greifen. Die Schokolade hatte man ihm offenbar ganz ohne Verpackung in die Tüte gestopft, damit mehr hineinpasste. Vielleicht sollte er ja bis Weihnachten gemästet werden, damit die ganze Familie richtig was zu schlemmen hatte. Immer wieder verschwanden seine kurzen, fetten Finger im Dunkel der Tüte und kamen große braune Stücke umklammernd wieder hervor. Rudis Gesicht bekam dann etwas sehr Ernsthaftes, Konzentriertes, als sei der Drang, Schokolade zu vertilgen, eine heilige Mission. Es war seine Aufgabe, die deutsche Schokoladenindustrie vor dem Ruin zu retten. Er stopfte sich mehr von dem Zeug ins Maul als eigentlich möglich. Seine Backen blähten sich auf wie Ballons. Ich frage mich heute noch, wie er überhaupt zubeißen konnte, um die Brocken zu zerkleinern. Naja, vielleicht ließ er sie auch einfach im Mund schmelzen und schluckte sie dann hinunter wie sehr dicken Kakao. Seine Hände sahen aus, als habe er gerade ein stark verunreinigtes Klo gesäubert. »Als hätte er sich selbst in die Hand geschissen«, sagte meine Mutter, als sie es am Abend meinem Vater erzählte.

Zwei Reihen vor mir saß Micha, der Popelfresser. Der hätte zusammen mit dem fetten Rudi als Vorher/Nachher-Models für eine besonders erfolgreiche Diät posieren können. Micha war dünn wie ein Streichholz und blass wie der Mond. Das Erste, was ich von ihm sah, war sein enorm langer, enorm dünner Zeigefinger, der immer wieder in eines seiner Nasenlöcher kroch, etwas Grünfeuchtes herausholte und zwischen den Lippen verschwinden ließ. Auch er war mit einem fast heiligen Ernst bei der Sache. Erging wahrscheinlich nicht zur Schule, um irgendwann Abitur zu machen, sondern um ungestört von seiner Mutter (die ihm immer wieder den Finger aus der Nase schlug) seine Nasenschleimhäute abzukratzen. Mir wurde schlecht. Ich hatte keine Lust mehr auf Schule.

Der Rektor begrüßte uns, stellte dann die beiden Klassenlehrerinnen vor und teilte je zwanzig oder dreißig Kinder einer Lehrerin zu. Meine war groß und dünn, hatte lange braune Haare und trug eine weiße Rüschenbluse und einen langen blauen Rock. Meine Klasse war die »1a« und ich fand, damit war alles gesagt.

Um den großen Tag angemessen zu dokumentieren, gingen meine Mutter und ich später am Tag ins Kaufhaus Kortum, wo ich in allen möglichen Posen fotografiert wurde. Danach gingen wir automatisch in die Spielwarenabteilung, wie wir es immer taten, wenn wir bei Kortum waren. Meine Mutter drückte mir zehn Pfennig in die Hand, damit ich sie in die »Bimbo-Box« warf, eine Art Jukebox für Kinder, in der keine Platten liefen, sondern eine offensichtlich kokainsüchtige, in bunten Klamotten gewandete Affenband mit irrem Blick unter staubigen Stoffpalmen auf diverse Instrumente einhämmerte, als gäb's kein Morgen. Ich hob schon die Hand, um das Geldstück in den Schlitz zu schieben, hielt dann aber inne, sah meine Mutter an und schüttelte den Kopf. »Nein, Mama. Ich muss jetzt mit Jungs zur Schule gehen, die sich nur von Schokolade und Popeln ernähren. Ich glaube nicht mehr an die Bimbo-Box.«

Meine Mutter lachte, und wir gingen Eis essen. Kurz danach wurde ich erwachsen.

 

Radio Heimat
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Radio Heimat_split_000.html
Radio Heimat_split_001.html
Radio Heimat_split_002.html
Radio Heimat_split_003.html
Radio Heimat_split_004.html
Radio Heimat_split_005.html
Radio Heimat_split_006.html
Radio Heimat_split_007.html
Radio Heimat_split_008.html
Radio Heimat_split_009.html
Radio Heimat_split_010.html
Radio Heimat_split_011.html
Radio Heimat_split_012.html
Radio Heimat_split_013.html
Radio Heimat_split_014.html
Radio Heimat_split_015.html
Radio Heimat_split_016.html
Radio Heimat_split_017.html
Radio Heimat_split_018.html
Radio Heimat_split_019.html
Radio Heimat_split_020.html
Radio Heimat_split_021.html
Radio Heimat_split_022.html
Radio Heimat_split_023.html
Radio Heimat_split_024.html
Radio Heimat_split_025.html
Radio Heimat_split_026.html
Radio Heimat_split_027.html
Radio Heimat_split_028.html
Radio Heimat_split_029.html
Radio Heimat_split_030.html
Radio Heimat_split_031.html
Radio Heimat_split_032.html
Radio Heimat_split_033.html
Radio Heimat_split_034.html
Radio Heimat_split_035.html
Radio Heimat_split_036.html
Radio Heimat_split_037.html
Radio Heimat_split_038.html
Radio Heimat_split_039.html
Radio Heimat_split_040.html
Radio Heimat_split_041.html
Radio Heimat_split_042.html
Radio Heimat_split_043.html
Radio Heimat_split_044.html
Radio Heimat_split_045.html
Radio Heimat_split_046.html
Radio Heimat_split_047.html
Radio Heimat_split_048.html
Radio Heimat_split_049.html
Radio Heimat_split_050.html
Radio Heimat_split_051.html
Radio Heimat_split_052.html
Radio Heimat_split_053.html